Genuine Farbenmalerei und integrales Bewusstsein (Zur neuesten Entwicklung in Jürgen Umlauff´s Werk 2006)
Von Ralf Kulschewskij
Jürgen Umlauffs farbenforschende Malerei ist im besten Sinne des Wortes „genuin“. Sie ist eine echte, unverfälschte Farbenmalerei ohne eine gegenständliche oder sonstige formale Allusion, ja unangefochten von jener vor gefassten, dem reinen Akt des Malens aufoktroyierten Vorstellung eines „Bildes“. Über die farbentheoretisch-kunst-historischen Implikationen seiner wahrhaft auf-klärenden Malarbeit wurde bereits früher informiert (Katalog „Iterationen“ 2003). Anlässlich seiner ersten blau-gelben „Grenzbeobachtungen“ wurde das regressive Verhalten des Gelb als auch die dynamische Tendenz des Blau festgestellt, sowie die Schwierigkeit , ein als „Hof, Aura, Halo“ unvermutet auftretendes Rot zu eliminieren, erkannt. Um dieses nicht materiell gemalte, dennoch optisch wahrnehmbare Rot und seine irritierende Evidenz (siehe Katalog „Iterationen“ 2006) geht es Umlauff zunächst auch in seinem neuesten Werk.
Die mit dem Begriff „Iterationen“ treffend benannten Bilder nähern sich durch Wiederholung und Variation jener Merkwürdigkeit des menschlichen Farbempfindens, die auch als „simulativer Effekt“ zu beschreiben wäre. Während eine tatsächliche Mischung von Blau und Gelb ja bekanntlich Grün ergäbe, „korrigiert“ unser normativ verfahrendes Gehirn das empirisch vorgehende Auge und setzt ihm ein irrlichterndes Rot in den Blick. In einem Gemälde „Rot-Tendenz“ scheint es noch einwandfrei „sichtbar“ auf und ist eindeutig vom „farblosen“ Malgrund der Leinwand zu unterscheiden. In dem Gemälde „Grün-Tendenz“ dagegen tritt dann dieses rote Randphänomen nicht mehr auf; die dichter aneinander stoßenden blauen und gelben Flächen produzieren nunmehr einen marginalen grünen Schein – die umfangreiche Werkgruppe der Umlauffschen „Grenzbeobachtungen“ hat ihr Ziel, die Eliminierung jenes fragwürdigen Rot, erreicht.
Diese beiden zu gleicher zeit (im Jahr 2005) entstandenen Bilder belegen eindrucksvoll die Stringenz, das heißt die innere Logik und Stimmigkeit der künstlerischen Entwicklung dieses für die visuelle Erkundung der Farben so bedeutsamen Malers. Obendrein: allein schon das Verfolgen von dreierlei Blau in den dunkleren Chiffren, den helleren umgebenden Flächen und im Untergrund unter dem Gelb in einem einzigen Bild, der Tafel „Grün-Tendenz“, bezeugt eine optische Spannung, die nachhaltig wirkt und schließlich eine imaginäre Plastizität bewirkt. Ebenso erzeugt eine filigrane Quadrierung mit Graphitstift eine lebendige räumliche Tiefe. Doch folgt der exzeptionellen Beschwingtheit der Formen im Umlauffschen Oeuvre prompt eine strengere Reduktion der Formen.
In einer Art Synkretismus geistern sie noch wie wilde Derwische in ein Bild herein. Das der Künstler (ein Gemälde Delacroix` im Kopf) „Heiliger Georg“ betitelt. Doch bleiben sie charakteristischerweise auf ihr jeweils zugewiesenes „optisches“ Quadrat beschränkt – eng flankiert aber von einer ganz neuartigen, strikt auf die waage- und senkrechte Linearität reduzierte, geradezu ritualisierte Zeichenhaftigkeit. Die scheinbar zügellos tanzenden „Figuren“ mitsamt ihrem auratisch wieder herein schimmernden Halonen-Rot werden gebändigt durch ein rigoros formalisiertes Geflecht. Woher stammt diese drakonische Ordnung?
Das älteste chinesische Buch „I – Ging“, auch „Buch der Wandlungen“, unternimmt nichts Geringeres, als in streng strukturalistischer Denkweise auf die entscheidende Lebensfrage „Was soll ich tun?“ zu antworten. Zunächst eine Sammlung von Zeichen für Orakelzwecke, wurde das „Ja“ durch einen einfachen Querstrich, das „Nein“ durch einen unterbrochenen bezeichnet. Beim Bedarf größerer Differenzierungen entstanden 64 Kombinationen aus je 6 Strichen, so genannte Hexagramme (auch „Bilder“, chinesisch hsiang). Dieses in sich völlig geschlossene Kategoriensystem, in dem jedes Zeichen seine eigene inhaltliche Bedeutung hat und jede nur mögliche Kombination dieser Einzelzeichen miteinander eine klar fassbare Interpretation beinhaltet, beansprucht nicht allein, die Totalität der Welt zu erfassen, sondern diese auch in ihrer andauernden Veränderung zu erkennen; daher der Name „Buch der Wandlungen“. Gemeint sind die Wandlungen der Welt, der Gegenstände, des Raumes in der Zeit. Das heißt: es geht nicht primär um eine Erfassung der Welt, sondern vielmehr um eine Erfassung der Welt für das Leben des Menschen.
Diese 64 I-Ging-Hexagramme adaptiert Umlauff nun, modifiziert die quasi „digitale Strichkodierung“ aber individuell, führt senkrechte Striche, Quadratzentimeterpunkte und sich anbietende Winkel, Haken, Krampen, Mäander, leere und gefüllte Quadrate ein. Dadurch gelangt er zu einem neuartigen Bewusstsein der Wandelbarkeit und in der Zeit und damit des Erkennens des Lebens. Zudem die Idee des Schweizer Kulturphilosophen Jean Gebser von einer „integralen Bewusstseinsstruktur“ (siehe dessen Werk „Ursprung und Gegenwart“, Stuttgart 1966, besonders S. 121) aufnehmend, verarbeitet Umlauff – ähnlich dem Musikexperimentator John Cage bei einigen seiner Kompositionen – in der großen Arbeit „I Ging Iteration“ die 64 Einzelbilder zu einem umfassenden Gesamttableau. Und ergänzt diese in sich bereits recht bewegt wechselhafte Tafel durch eine Video-Sequenz, welche wiederum aus 64 Einzelfilmen nach einem speziellen Würfelsystem aneinander gefügt wurde. Alle 12 Sekunden geschieht ein Schnitt und damit – für den sensiblen Betrachter – eine andere Gegenwärtigkeit des Himmel-Meeres-Horizontes. „64 x 12 sec.“ – eine Folge von Naturschauspielen, zu 12 min. 48 sec. Kunstschauspiel komprimiert.
Mit Hilfe des durch Würfeln ermittelten Zufallsprinzips als Grundlage des kreativen Prozesses seien, so der Künstler in einem Statement, „sowohl das mythische Zeitempfinden wie auch die mentale Zeitgerichtetheit gestört“ – wo nicht gar gänzlich ausgeschaltet. Doch das hat der einlässliche Betrachter vor den Werken selbst zu verifizieren. Diese letztentstandenen Arbeiten des Malers Jürgen Umlauff wirken jedenfalls als Katalysatoren traditionell eingefahrener Denkschemata. So dass der aufmerksame Rezipient möglicherweise die spektakulär sich verdichtende Konkretisierung des adjektivischen „panta“ („alles“ bei Hesiod) über das substantivierte „ta panta“ („alles“ bei Heraklit) zum singularisierten „to pan“ („das ganze“ bei Empedokles) mit eigenen Augen am eigenen Geist erfährt.