Ein neuer Raum im Bild  –  und seine Wahrnehmung / Zu den jüngsten Werken von Jürgen Umlauff

Von Ralf Kulschewskij

Die Räumlichkeit, in der die heute lebenden Menschen sich bewegen, sich sehen und sich bewegen sehen, ist nicht mehr dieselbe, die die italienischen Künstler der Renaissance konstruierten, als sie die Zentralperspektive erfanden. Deren Dominanz  –  von Leon Battista Albertis Traktat „De Pictura“ (1435) über Albrecht Dürers „Unterweisung der Messung“ (1525) bis zu Jan Vredeman de Vries’ theoretischem Resümee „Perspective“ (1604)  –  ist durch gegenwärtig erkannte physikalische (Un-) Gesetzmäßigkeiten bis ins Verschwinden relativiert.

Die Malerei seit dem 15. Jahrhundert „glaubte sich auf den optischen Schein vereidigt“ (Jacob Burckhardt), und Dürers Erklärung „Perspectiva bedeutet eine Durchsehung“ war nicht nur in visueller, sondern vielmehr auch in hermeneutischer Hinsicht gültig. Nach Hans Beltings aktuellem Rückverweis auf das „Buch der Sehtheorie“ des arabischen Philosophen Alzahen (um 1200), wird man wissenschaftliche Erkenntnis wie Kritik künstlerischen Schaffens von diesem wiedergefundenen Ansatz ausgehend neu aufnehmen müssen.

Ein Künstler, der auf intuitive Weise mit seinen jüngst geschaffenen Werken zu dieser initiativen Besinnung beiträgt, ist der Kölner Maler Jürgen Umlauff. Sein künstlerischer Werdegang ist mehrmals geschildert worden (Texte Ralf Kulschewskij in den Katalogen „Jürgen Umlauff, Iterationen“, 2003 und 2006 sowie im Internet). Im Grunde ging es dem Maler und Farbenforscher stets um eine „phänomenologische Er-Gründung“ der von ihm für elementar angesehenen Farben Blau und Gelb. Und um den Versuch, das vom Gehirn des Betrachters „ergänzend“ hinzugefügte, im Bild als Aura sichtbare, obwohl physikalisch nicht gemalte und nicht vorhandene Rot zu eliminieren.

Seine „investigative Kunst“ bewegte sich mit immer neuen „Iterationen“ (Annäherungen durch Wiederholen) im irritierenden Grenzbereich zwischen Sehen und Wahrnehmen. In seiner vorletzten Werkgruppe hatte Umlauff sich an Vorgaben des chinesischen „Buches der Wandlungen“ („I-Ging“) orientiert und war zu strengen  Gebilden und deren zahlencodierten Kombinationen im Sinne einer „integralen Bewusstseinsstruktur“ (nach dem Schweizer Kulturphilosophen Jean Gebser) gelangt. Wo es jedoch zutiefst nicht allein um eine Erfassung der Welt „an sich“ gehen soll, sondern um eine Erkenntnis des stetigen Wandels derselben für die Menschen, hat selbst die strukturalistische Herangehensweise des „I-Ging“ keinen dauernden Bestand.

Folgerichtig hat Jürgen Umlauff sich in den neuesten Arbeiten von seinen temporären Erkenntnisprämissen gelöst. Fast spielerisch, mit einer wiedergewonnenen Heiterkeit nimmt er seine Blau-Gelb-Erkundungen auf und verwendet  – quasi als „Experimentierfeld“  –  das menschliche Haupt, genauer: das Profil eines sich mehr oder weniger aus der Seitenansicht heraus oder in sie hinein sich drehenden Kopfes. Und macht wiederum  –  und der genaue Betrachter mit ihm –  die Erfahrung der Korrektur des Vorhandenen durch das nach eigenen Gesetzen fungierende Gehirn. In den Spatien zwischen den verschieden kräftig blau gemalten Kopfprofilen und ihrer gelben Umgebung schimmert unmissdeutbar ein rosa-roter „Hof“ herauf. Es ist nachweislich nicht die Farbe des (unbemalten!) Nessel- oder Papier-Untergrundes. Es „erscheint“ als ein diskretes, mattes, aber unübersehbares Leuchten – und es ist nur „scheinbar“ da, nicht tatsächlich! Es scheint nur so  –  aber es scheint!

Das ist der Streich, den unser Gehirn uns spielt. Mit seinem durch Seh-Erfahrung legitimierten normativen Anspruch ergänzt das Gehirn des Betrachters die Wirklichkeit des gemalten Bildes. Es „zeigt“ unseren Augen zwischen den mit Aquarellfarben aufgetragenen Formen und Flächen etwas realiter Nicht-Existentes: eine Ein-Bildung im vertracktesten Sinn des Wortes. In den vier großen „Janus“-Gemälden und zahlreichen kleinformatigen „Cut Pieces“ aus dem Jahr 2007 hat Umlauff die unterschiedlichen, eben titelgebend „janusförmigen“ Profil-Positionen um eine Tiefendimension bereichert. Nicht nur wirkt ihre vertikale Aufreihung anti-grav (der Schwerkraft enthoben) und schafft eine leichte Anmut und luftige Grazie. Die verschieden dichten Töne ein- und desselben Blaus sind oft in mehreren Schichten aufgetragen. Und das Gelb, später hinzugefügt, ist teilweise pur belassen, enthält aber partienweise blaue Spuren, Spritzer, die teils kaschiert wurden, teils klar verbleiben. So entsteht eine lebendige Sequenz menschlicher Häupter, die  –  konservativ und progressiv zugleich  –  das signifikante Menschenbild bewahrt und doch in einer ungesicherten Farbenwelt aufscheinen lässt.

Bilder einer fließenden Welt. Jede Profilsilhouette umgibt ein dezentes optisches Flair. Die rosa-schimmernd sich einfindende Transluzidität steht dann sinnbildlich für die Fluktuation des Bildes, der Wahrnehmung, der Zeit, des Seins.

Perspektivismus anstelle der Perspektive. Ein neues, optisches, nicht-illusionistisches Bild des Raumes und des Menschen darin. Der von Gustav Teichmüller („Die wirkliche und die scheinbare Welt“, 1882) geprägte, durch Nietzsche verbreitete Begriff benennt die „perspektivistische“, das heißt die auf das Subjekt, die Umwelt, den Standort und die Anschauung des einzelnen Menschen bezogene, wesenhaft nicht-endgültige, zu immer anderen Perspektiven führende Beschaffenheit unseres Erkennens. Diesen philosophischen Relativismus hat der Maler Jürgen Umlauff vor unseren Augen ins Bild gesetzt.

Kein Wunder, dass ein Künstler, der diese prekäre Gegebenheit der Conditio humana thematisiert, auch zu den schnellflüchtigen Darstellungsmodalitäten des Filmes greift. So entstand das Video „Profiles From A Roadmovie“ in den Jahren 2005 bis 07. Das Gesicht einer jungen Frau im fahrenden Auto erscheint gedoppelt, also wiederum nach Art des voraus und zurück blickenden römischen Gottes des Ein- und Ausganges und des Jahreswechsels namens Janus. Es oszilliert vor der vorbeiziehenden thailändischen Landschaft („On The Road To Sukhothai“ lautet der Untertitel). Und dem aufmerksamen Zuschauer wird bewusst, dass die (mit)erlebte Gegenwart sich an der scharfen Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft ereignet. Eine heikle Situation: die etwa gespürte Dauer dieser Gegenwart ist eine bloße Vorspiegelung unseres Gehirns  –  entspechend dem auratischen rosafarbenen Schein zwischen dem gelb ruhenden Grund und dem sich blau umwendenden Kopf in den Aquarellen.

Ein körperliches „Objekt“ kann wohl nicht anders als in einem ihn umgebenden Raum gedacht werden, so dass dieser „dann als eine gewissermaßen der Körperwelt übergeordnete Realität erscheint“ (Albert Einstein in seinem Vorwort zu Max Jammer, „Das Problem des Raumes“, 1960). Die erkenntnismäßig jedoch notwendige Überwindung eines absoluten Raumbegriffes durch die moderne Physik zugunsten eines Feldbegriffes mit vier raum-zeitlichen Komponenten ist (beinahe neun Jahrzehnte nach Einsteins „Kosmologischen Betrachtungen zur allgemeinen Relativitätstheorie“, 1917) immer noch nicht anerkanntes Gedankengut. Da begibt sich Umlauff auf das Terrain einer kontroversen geistigen Diskussion. „Im Raum die Zeit lesen!“ lautete das Postulat des Biologen Friedrich Ratzel, der den Terminus des „Lebensraumes“ prägte. Das heißt: wieder sehen lernen! Die Werke des Malers und Videokünstlers Jürgen Umlauff sind ästhetisch überzeugende Mittel der Veranschaulichung  –  unter optischem und mentalem Aspekt. (Paul Virilios These vom „Verschwinden des Raumes“ ist ja mittlerweile Makulatur.)